Gesang der Jünglinge  
  Karlheinz Stockhausen Gesang der Jünglinge (1955-56)
Realisation: Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig
Uraufführung: Musik der Zeit Köln 30.5.1956

   
 

Karlheinz Stockhausen über „Gesang der Jünglinge“
„Die Vorarbeiten zur elektronischen Komposition Gesang der Jünglinge nahmen anderthalb Jahre in Anspruch. Sie gingen von der Vorstellung aus, gesungene Töne mit elektronisch erzeugten in Einklang zu bringen: sie sollten so schnell, so lang, so laut, so leise, so dicht und verwoben, in so kleinen und großen Tonhöhenintervallen und in so differenzierten Klangfarbenunterschieden hörbar sein, wie die Phantasie es wollte, befreit von den physischen Grenzen irgendeines Sängers. So brauchte ich auch sehr viel differenziertere elektronische Klänge als bisher, da gesungene Sprachlaute wohl das Komplexeste an Klangstruktur darstellen und also eine Verschmelzung aller verwendeten Klänge in einer Klangfamilie nur dann erlebbar wird, wenn gesungene Laute wie elektronische Klänge, wenn elektronische Klänge wie gesungene Laute erscheinen können. Die gesungenen Klänge sind an bestimmten Stellen der Komposition zum verständlichen Wort geworden, zu anderen Zeitpunkten bleiben sie reine Klangwerte, und zwischen diesen Extremen gibt es verschiedene Grade der Wortverständlichkeit. Silben und Worte sind dem Gesang der Jünglinge im Feuerofen (3. Buch Daniel) entnommen. Wo immer also aus den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott. Ebenso wesentlich wie ein so neues Erlebnis musikalischer Sprache ist auch das Folgende: In dieser Komposition werden die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum erstmalig vom Musiker gestaltet und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis erschlossen. Gesang der Jünglinge ist nämlich für fünf Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wie vielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden, das alles ist für das Verstehen dieses Werkes maßgeblich. […]

   
  Im Gesang der Jünglinge ist eine Einheit von elektronischen - also synthetischen Klängen und gesungenen - also ‚natürlichen' Tönen erreicht: Eine organische Einheit, die noch vor drei Jahren als ferne Utopie erschien. Sie bestärkt den festen Glauben an eine reine, lebendige Musik, die wieder unmittelbar den Weg zum Hörer finden wird. Und welcher Musiker wäre nicht glücklich bei dem Gedanken, dass er es vielleicht erlebt, wie die musikalische Sprache sich von allen Schlacken gereinigt hat und wie sie den, der zuhört, in eine neue musikalische Welt mitnimmt.
   
 
Gesang der Jünglinge