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Karlheinz Stockhausen über „Gesang der Jünglinge“
„Die Vorarbeiten zur elektronischen Komposition Gesang der Jünglinge nahmen anderthalb Jahre in Anspruch. Sie gingen von der Vorstellung aus, gesungene Töne mit elektronisch
erzeugten in Einklang zu bringen: sie sollten so schnell, so lang, so laut, so leise, so dicht und verwoben, in so kleinen und großen Tonhöhenintervallen und in so differenzierten
Klangfarbenunterschieden hörbar sein, wie die Phantasie es wollte, befreit von den physischen Grenzen irgendeines Sängers. So brauchte ich auch sehr viel differenziertere
elektronische Klänge als bisher, da gesungene Sprachlaute wohl das Komplexeste an Klangstruktur darstellen und also eine Verschmelzung aller verwendeten Klänge in einer
Klangfamilie nur dann erlebbar wird, wenn gesungene Laute wie elektronische Klänge, wenn elektronische Klänge wie gesungene Laute erscheinen können. Die gesungenen
Klänge sind an bestimmten Stellen der Komposition zum verständlichen Wort geworden, zu anderen Zeitpunkten bleiben sie reine Klangwerte, und zwischen diesen Extremen
gibt es verschiedene Grade der Wortverständlichkeit. Silben und Worte sind dem Gesang der Jünglinge im Feuerofen (3. Buch Daniel) entnommen. Wo immer also aus den
Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott. Ebenso wesentlich wie ein so neues Erlebnis musikalischer Sprache ist auch das Folgende: In dieser
Komposition werden die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum erstmalig vom Musiker gestaltet und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis
erschlossen. Gesang der Jünglinge ist nämlich für fünf Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wie
vielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden, das
alles ist für das Verstehen dieses Werkes maßgeblich. […]
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Im Gesang der Jünglinge ist eine Einheit von elektronischen - also synthetischen Klängen und gesungenen - also ‚natürlichen' Tönen erreicht: Eine
organische Einheit, die noch vor drei Jahren als ferne Utopie erschien. Sie bestärkt den festen Glauben an eine reine, lebendige Musik, die wieder unmittelbar den Weg zum
Hörer finden wird. Und welcher Musiker wäre nicht glücklich bei dem Gedanken, dass er es vielleicht erlebt, wie die musikalische Sprache sich von allen Schlacken
gereinigt hat und wie sie den, der zuhört, in eine neue musikalische Welt mitnimmt.
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