Epitaph für Aikichi Kuboyama  
  Herbert Eimert Epitaph für Aikichi Kuboyama für Sprecher und Sprachklänge (1960-62)
Realisation: Leopold von Knobelsdorff
Uraufführung: Darmstadt 9.7.1962

   
 

Die Komposition ist dem japanischen Fischer Aikichi Kuboyama gewidmet, der als erstes Opfer des Wasserstoff-Bombentests vom März 1954 starb. Als Materialvorlage für die Komposition dient der Text der Grabinschrift, die von Günther Anders ins Deutsche übersetzt wurde. Sie wurde von Richard Münch gesprochen und aufgenommen. Die Aufnahme des Textes wurde im Studio verschiedenen Transformationen mittels Filtern, Verstärkern sowie des Tonbandgerätes unterworfen und kompositorisch verarbeitet.

   
 

Die Inschrift des Epitaphs lautet:
"Du kleiner Fischermann, wir wissen nicht, ob Du Verdienste hattest.
Wo kämen wir hin, wenn Jedermann Verdienste hätte!
Aber Du hattest die Mühen wie wir,
Wie wir irgendwo die Gräber Deiner Eltern,
Irgendwo am Strande eine Frau, die auf Dich wartete,
Und zu Hause die Kinder, die Dir entgegen liefen.
Trotz Deiner Mühen fandest Du es gut, da zu sein.
Genau wie wir.
Und Recht hattest Du, Aikichi Kuboyama, Du kleiner Fischermann, Aikichi Kuboyama,
Wenn auch Dein fremdländischer Name kein Verdienst anzeigt -
Wir wollen ihn auswendig lernen für unsere kurze Frist, Aikichi Kuboyama
Als Wort für unsere Schande, Aikichi Kuboyama
Als unseren Warnungsruf, Aikichi Kuboyama
Aber auch als Aikichi Kuboyama, als Namen unserer Hoffnung;
Denn ob Du vorangingst mit Deinem Sterben oder nur fortgingst an unserer Statt: Nur von uns hängt es ab, auch heute noch,
Nur von uns, Deinen Brüdern, Aikichi Kuboyama."

(Übersetzung: Günther Anders)

Herbert Eimert schreibt über „Epitaph“:
„In dem Epitaph überwiegen die Sprachklänge als akustisch-phonetische Vorgänge, und ihre Umwandlung ins rein Musikalische lässt ihre Herkunft oft nicht mehr erkennen. Aber auch das Wort selbst, mit seinem Ausdruck, Sinn und Erlebnisinhalt, schlägt immer wieder durch und steigert sich mit dem ganzen Gewicht seiner Bedeutung zur Sinnbezeichnung einzelner Worte oder Wortverbindungen wie ‚Warnungsruf’, ‚Wo kämen wir hin?’, ‚Als Wort für unsere Schande’ oder ‚Als Namen unserer Hoffnung’. Daneben stehen eigentümliche Sprach- und Sprechbildungen aus durcheinandergewürfelten Silben oder Wortteilen; ferner rückwärts gesprochene Worte, motivische Figuren rein musikalischer Funktion, aber deutlich erkennbarer Herkunft vom gesprochenen Wort, und schließlich Neubildungen von Worten und Sätzen, die in ihrer Nicht-Verständlichkeit als unbekannte Fremdsprache empfunden werden. Was weder bei der Rundfunkwiedergabe noch auf der Schallplatte erreicht werden kann, das ist die räumliche Konfiguration von Silben, Worten und Sätzen, die in dem Stück - wie auch alle klanglichen Vorgänge - auf vier Kanäle verteilt sind und bei der konzertmäßigen Aufführung die Verwendung eines Vierspurmagnetophons voraussetzen.
Die Form des Epitaphs ist leicht überschaubar; sie besteht aus der Exposition, zu der auch der Vortrag der Grabinschrift gehört, aus den Strukturkomplexen A, B und C und der Koda. […] Die Grundlage der Zeitstruktur ist der Rhythmus des gesprochenen Wortes. Man muss sich das so vorstellen, als ob das Sprechband unhörbar abliefe, verdeckt durch ein System von Filtern, die abwechselnd und kontinuierlich in den verschiedenen Schichten des Wortspektrums geöffnet und wieder geschlossen werden, wobei sich viele weitere Varianten durch die Änderung der Sprechgeschwindigkeit ergeben. […] Die verschiedenen Verständlichkeitsgrade der Silben, Worte und Sprechchöre (bis zu sechs Stimmen) ergeben sich unmittelbar aus der Behandlung des Grundmaterials, das keinen ‚Dualismus’ zwischen Wort und Klang zu überwinden braucht, weil es ihn nicht mehr kennt.“

   
 
Epitaph